Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Typ:
Friedhof
Ort:
Inagawa [Satellit]
Staat:
Japan
Architekt:
David Chipperfield 🔗, London
Materialien:
Altbausanierung, Beton
Publiziert:
opus C [86] 02/2019
Seiten:
26 - 32
Inhalt:
[Artikel]      
 

Friedhofszentrum in Inagawa, Japan

Monolithische Kontemplation

In der gut 40 km nördlich von Osaka gelegenen Kleinstadt Inagawa hat der britische Architekt David Chipperfield eine überkonfessionelle Begegnungsstätte eines Friedhofs aus durchgefärbtem Beton geschaffen. In selbstverständlicher Weise integrierte er dabei eine bestehende Freitreppe.
Der schon seit einigen Jahrzehnten bestehende Friedhof von Inagawa wird unterhalten durch die Boenfukyukai- Stiftung. Gegründet wurde sie 1969 durch die Familie Osawa mit dem Ziel, eine in Japan neue Art von Friedhöfen anzubieten, die allen Religionen offenstehen. Sie stellen eine der wenigen Alternativen zu der traditionell-japanischen Begräbniskultur dar – einer Einäscherung nach buddhistischem Ritus. Aktuell betreibt die Stiftung fünf Friedhöfe, bei allen spielt Architektur eine wichtige Rolle.
Freitreppe am Hang
Auf dem Friedhof von Inagawa erhielt der britische Architekt David Chipperfield den Auftrag, den bestehenden zweigeschossigen Zweckbau eines Empfangsgebäudes durch einen dem traurigen Anlass angemessenen Neubau zu ersetzen. Der Architekt entwickelte ein intimes Arrangement aus flachen Bauteilen, Laubengängen und freistehenden Wandscheiben, die er – dem natürlichen Hanggefälle folgend – leicht versetzt übereinander stapelte. Bekrönt wird das Ensemble von einer geneigten, aber durchgehenden Dachebene, welche die Umrisse der von ihr überdeckten Baukörper aufnimmt, die sich ergebenden Innenhöfe allerdings ausspart. Umsäumt von Laubengängen und auskragenden Dachscheiben erhalten diese damit einen subtil klösterlichen Charakter.
Die Dachneigung von 12,7° entspricht exakt dem Blickwinkel, um von hier hinauf zum heiligen Friedhofsschrein auf dem Hochpunkt der Anlage zu schauen. Vor diesem endet eine beibehaltene, über 190 m lange Treppenanlage, die gut 45 Höhenmeter überwindet. Mittig erschlossen wird damit das sich über einen Berghang erstreckende Gräberfeld, das zudem barrierefrei über eine Fahrstraße zugänglich ist. Sie windet sich in langen Serpentinen durch dieses nach oben und kreuzt dabei mehrfach den schnurgeraden Stufenweg.
In dessen Mitte fließt ein Bachlauf, gefasst in einer Rinne zu Tale, erreicht einen Wasserspeier und ergießt sich aus diesem in ein rechteckiges Betonbecken. Das hier überlaufende Bergquellwasser fließt verrohrt einem zweiten Becken in dem wenige Meter tiefer gelegenen neuen Innenhof zu. Der kontemplative Umgang mit der Natur ist den Japanern gerade im Rahmen ihrer Gedächtniskultur wichtig. So finden sich an dem Neubau immer wieder intime Ecken, in denen sich die Natur ungehindert entfalten darf.
Hof der Einkehr
Emotionaler Kern der neuen Begegnungsstätte ist ein Pan- Theon, eine Kapelle aller Konfessionen. Angeordnet ist sie jedoch nicht in dessen geometrischer Mittelachse; vielmehr schließt sie an dessen nördlicher Wange an die in diesem Bereich neu angelegte Freitreppe an. Der Raum vermittelt einen stillen Charakter, der mit seiner monolithischen Natur und der gezielten Steuerung des indirekt einfallenden Lichts zur Einkehr einlädt. Bewusst verzichtet wurde auf alle Religionszeichen, der Andachtsraum gewährt jedoch seitliche Ausblicke auf zwei flankierende Zen- Gärten, die ansonsten vollständig von gut 3 m hohen Mauern umschlossen sind. In diesen ist die Natur, anders als auf den außerhalb liegenden Grünflächen, akkurat getrimmt und geschnitten.
Vom Parkplatz kommend, betritt man das Ensemble an seiner Südostseite und erreicht unmittelbar dessen zentralen Innenhof, über den – ähnlich einem Kloster – der Zugang zu allen weiteren Räumen organisiert ist und an dem auch die große Freitreppe ansetzt. Erschlossen wird neben der Kapelle ein nach Südwesten außermittig zur Treppenachse versetzter Gedenkraum. Er kann für formelle Zeremonien mit Stoffvorhängen in drei kleinere Einheiten unterteilt werden. An der westlichen Stirnseite des Innenhofes schuf der Architekt schließlich einen informellen Raum zum Ruhen und zum Speisen. Dieser ist karg eingerichtet mit dunkelgrau lackierten Holztischen und -stühlen.
Beton gibt Halt
Neben dem formal kontemplativen Charakter des Betons spielte auch die Erdbebensicherheit der Konstruktion eine große Rolle. Wie ganz Japan ist auch die Region in den Hokusetsu- Bergen von hoher seismischer Aktivität geprägt. Vor diesem Hintergrund wollten die Architekten nicht nur einen Ort schaffen, der spirituell, sondern auch von seiner Bauart her für die Ewigkeit gedacht ist.
Bewusst wurde mit einer sandgestrahlten Betonoberfläche gearbeitet, um das monolithische Erscheinungsbild zu verstärken. Auch die blassrote Pigmentierung nimmt diesen Gedanken auf und verleiht dem Bauwerk eine erdige, entfernt an einen historischen Lehmbau erinnernde Note. Verstärkt wird der Eindruck dadurch, dass sichtbare Ankerlöcher in den Ortbetonwänden vermieden wurden. Stattdessen verwendete die bauausführende Obayashi Corp. Gewindestangen mit Silikonhülsen und fixierte die Schalungen mit Sechskanthaltern. Deren Abdruck wurde dann im Zuge der sich anschließenden betonkosmetischen Maßnahmen beseitigt. Das abschließende Finishing bestand neben dem Sandstrahlen der Sichtbetonflächen aus dem Abschleifen und dem Verspachteln von Schalungsstößen und schlecht verdichteten Betonnestern. Insbesondere die von ihrer Betonage her anspruchsvolle geneigte Sichtbetondecke der Kapelle erforderte umfangreiche Nacharbeiten dieser Art.
Um ein möglichst einheitliches Färbungsbild des Betons zu erhalten, führte der in Tokio ansässige Baukonzern bereits im Vorfeld umfangreiche Materialtests und Versuchsaufbauten zur Oberflächennachbearbeitung durch. In der Rohbauphase fügte das Bauunternehmen zudem transparente Plexiglasplatten in kritische Bereiche der Schalung ein, um die Gleichmäßigkeit des Verdichtungsprozesses an komplexen Knotenpunkten beobachten und so die optimale Bauausführung garantieren zu können. Die fertig bearbeitete, offenporige, rot pigmentierte Betonoberfläche verändert nunmehr ihre Farbigkeit und ihren Glanz in Abhängigkeit von Licht, Wetter und Jahreszeit – aber auch mit der Zeit.
Ort des Kommens und Gehens
Die Architekten betrachten ihr Gebäudeensemble am Friedhof zu gleichen Teilen als einen Ort des Ankommens und des Abschieds. Der Bau bildet das Entrée des Areals, er ist aber auch der Ort des Abschieds von den Verstorbenen. Der monolithische Beton schafft dafür ein Gefühl von Ruhe, Ewigkeit und Schutz. Seine formale Härte wird abgemildert durch den erdigen Farbton. Die von der Hangneigung abgeleitete Dachschräge vermittelt eine angenehm abstrakte Nähe zur Natur.
Robert Mehl, Aachen